"Vormarsch mit massiven Atomschlägen in Richtung Atlantikküste,"
Die Presse,
31 May 2000, by Hans-Jörg Schmidt
Der Warschauer Pakt wollte innerhalb einer Woche durch Süddeutschland bis nach Lyon vorrücken, geht aus einem tschechischen Operationsplan aus den sechziger Jahren hervor.
PRAG. Die Mär vom „friedliebenden Warschauer Pakt“, der nur zu Verteidigungszwecken atomare Waffen habe abschaffen müssen, ist erneut widerlegt worden. Ein in der Prager Zeitung „Lidove noviny“ publizierter Operationsplan aus dem Jahr 1964 sah vor, dass die tschechoslowakische Armee im Rahmen eines für den Konfliktfall vorgesehenen Angriffs des östlichen Bündnisses einen raschen Vorstoss durch Süddeutschland nach Frankreich unternehmen sollte.
Der militärische Coup sollte von mehr als 100 taktischen Nuklearschlägen begleitet werden. Der Operationsplan, im Februar dieses Jahres von einem Prager Geschichtsforscher in den Archiven der ehemaligen Streitkräfte der ·SSR entdeckt, ist jetzt gemeinsam mit anderen Studien durch das „Parallel History Project NATO and the Warsaw Pact“ veröffentlicht worden.
Wie aus dem Dokument hervorgeht, sollten die 1. und die 4. ·SSR-Armee mit jeweils zwei Schützen- und Panzerdivisionen und Korpstruppen in Richtung Bayern vorstossen und schon am ersten Angriffstag eine Linie Bayreuth-Regensburg-Passau erreichen. In einer ersten Angriffswelle gegen amerikanische und bundesdeutsche Einheiten sollten 41 atomare Schläge geführt werden; insgesamt waren 131 Schläge vorgesehen.
Um Österreich herum Der Plan ging von einer fortdauernden Neutralität Österreichs aus und sah dementsprechend die Heranführung einer sowjetischen Mot-Schützendivision aus Ungarn in die Tschechoslowakei vor. Schon nach einer Woche wollten die ·SSR-Verbände in Frankreich sein und auf dortigem Grund gegen die Grossstadt Lyon vorstossen.
Nato-Experten bezeichneten diese Planung als ambitiös und realitätsfremd. Dies auch deshalb, weil ein von sowjetischen und DDR-Einheiten im Konfliktfall geplanter massiver Vorstoss durch Norddeutschland erst nach etwa zwei Wochen französisches Gebiet hätte erreichen sollen. Aus heutiger tschechischer Sicht bemerkenswert ist die Tatsache, dass es offenbar schon vier Jahre vor der militärischen Zerschlagung des „Prager Frühlings“ Überlegungen gegeben haben muss, die Tschechoslowakei zu einem Aufmarschgebiet für sowjetische Truppen zu nutzen. Russische Einheiten waren massgeblich an der Niederwalzung des Reformversuchs beteiligt und verblieben nach dem „Moskauer Protokoll“ • einem Diktat, dem sich die damalige Prager Führung unter Alexander Dubcek zu fügen hatte • bis 1990 in Böhmen stationiert.
Dies hatte, wie sich heute zeigt, nicht nur den Sinn, gegen etwaigen neuen Aufruhr in der Tschechoslowakei „gewappnet“ zu sein; dem Kreml gelang es damit auch, das Kräfteverhältnis in diesem Aufmarschgebiet gegen den Westen, zumindest bis zur Verstärkung der in Süddeutschland stationierten US-Einheiten, zu seinen Gunsten zu verändern.