"Im Tschechenpanzer in neun Tagen nach Lyon?" Die militärischen Pläne des Warschaupakts, Neue Zürcher Zeitung, 27 May 2000, p. 5, by Christian Müller
Veröffentlichung des Prager Operationsplans von 1964
Laut einem jetzt publizierten Prager Operationsplan von 1964 sollte die tschechoslowakische Armee im Rahmen eines für den Konfliktfall vorgesehenen Angriffs des Warschaupaktes gegen Westeuropa einen von unzähligen Nuklearschlägen begleiteten raschen Vorstoss durch Süddeutschland unternehmen. Nach Überwindung des Rheins sollte sie schon nach ungefähr einer Woche aus einer Linie Dijon-Besançon gegen den Raum Lyon vordringen.
Paris, 26. Mai. Durch Süddeutschland über die Zaberner Senke und durch die Burgundische Pforte bei Belfort sollten gemäss den operativen Planungen des Warschaupakts aus den sechziger Jahren zwei Armeekorps der tschechoslowakischen Streitkräfte in raschem Vorstoss am neunten Tag ihrer von Nuklearschlägen begleiteten Offensive in den Raum Lyon gelangen. Ein entsprechendes Dokument aus den Archiven der einstigen tschechoslowakischen Armee ist im Februar dieses Jahres aufgetaucht und nun zusammen mit einem alten Operationsplan der polnischen Streitkräfte von 1951 sowie einer längeren Studie von 1964 des damaligen sowjetischen Armeegenerals Iwaschutin, des jahrzehntelang amtierenden Chefs des Militärgeheimdienstes GRU, über die sowjetische Nukleardoktrin durch das «Parallel History Project on Nato and The Warsaw Pact»* veröffentlicht worden. Zugleich wurde der frühere tschechoslowakische Oberst Karel Stepanek als ehemaliger Angehöriger der Operationsabteilung des ·SSR-Heeresgeneralstabs durch den Historiker Petr Lunak über die Hintergründe des Offensivplans von 1964 befragt. Mit Ausnahme eines Artikels in «Le Monde» hat die Enthüllung dieses Dokuments bisher in Frankreich kaum ein Echo gefunden.
Luftlandung bei Mülhausen
Die Front in Böhmen war auch aus der Sicht des alles entscheidenden Sowjetgeneralstabs ein Nebenkriegsschauplatz. Der Hauptstoss einer Grossoffensive im Kriegsfall in Europa wäre von den zwanzig sowjetischen Divisionen aus Ostdeutschland im Verbund mit der ostdeutschen Armee weiter nördlich geführt worden. Der Prager Operationsplan von 1964 sah ausdrücklich das Zusammenwirken am rechten Flügel mit der sowjetischen 8. Garde-Armee vor, die von Suhl gegen Bad Kissingen mit Teilen über Bamberg bis nach Worms am Rhein hätte vordringen sollen. Merkwürdigerweise fehlt jeder Bezug auf die sowjetische 1. Garde-Panzer-Armee. Sie hätte laut späteren Warschaupakt-Planungen, die schon kurz nach dem Zusammenbruch der DDR vor über sieben Jahren an die Öffentlichkeit gelangt waren, die beiden Korps der amerikanischen 7. Armee binden sollen, während von Böhmen antretende Verbände der Sowjets und der Tschechen in die rechte Flanke der Amerikaner bis nördlich von Nürnberg zu fallen gehabt hätten. Die noch bis Mitte der achtziger Jahre gültige Planung der Sowjets sah für die tschechoslowakischen Streitkräfte keinen Vorstoss in die Tiefe vor, sondern einen breiten Angriff vor allem zur Bindung des deutschen II. Korps und allfälliger französischer Verstärkungen.
Vor diesem bisher bekannten Hintergrund mutet nun die Erörterung des Operationsplans für die Böhmen-Front in den sechziger Jahren überraschend an. Mit je zwei motorisierten Schützendivisionen und zwei Panzerdivisionen sowie unzähligen Korpstruppen sollte nördlich die 1. und südlich die 4. Armee der tschechoslowakischen Streitkräfte vorstossen und schon am Ende des ersten Angriffstages die Linie Bayreuth- Regensburg-Passau erreichen. Von Anfang wurden 131 taktische Nuklearschläge eingeplant, 41 davon allein in einem ersten Schlag gegen amerikanische und deutsche Kräfte im Operationsraum. Zwei Panzerdivisionen und vier motorisierte Schützendivisionen sowie die 22. Luftlandebrigade waren als unmittelbar verfügbare Reserve in der 2. Armee zusammengefasst. Vorgesehen war für den Fall der Aufrechterhaltung der Neutralität Österreichs zudem die Heranführung einer sowjetischen motorisierten Schützendivision aus Ungarn nach Böhmen am dritten Operationstag. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Spitze des Angriffs zum Teil bereits die Linie Mosbach-Nürtingen-
Memmingen-Kaufbeuren erreicht haben. Der Einsatz der Luftlandebrigade war wahlweise mit einer Landung am vierten Tag nördlich von Stuttgart, am fünften im Raum Rastatt oder am sechsten Operationstag im Raum östlich von Mülhausen im Elsass geplant. Ziel dieses Einsatzes war die Erzwingung des Übergangs über den Neckar oder über den Rhein.
Bedeutung des Sowjeteinmarsches 1968
Der Operationsplan mutet, bei aller Berücksichtigung der umfangreichen Nuklearschläge, bezüglich der Terminierung der einzelnen Zwischenetappen geradezu abenteuerlich ambitiös an. Nach einem weiteren Vordringen beidseits einer Achse Strassburg-Epinal wollten die angreifenden Verbände schon am sechsten oder siebten Tag die Linie Langres-Dijon-Besançon erreicht haben, um daraufhin südwärts gegen den Raum Lyon vorzustossen. Wenn man bedenkt, dass die Sowjets bei ihrem Hauptstoss im Norden beidseits des Harzes gemäss ihren Planungen erst zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Tag die Grenze Frankreichs erreichen zu können wähnten, was ebenfalls unglaublich ehrgeizig anmutet, so grenzt der Prager Fahrplan für eine flankierende Nebenoperation durch Süddeutschland mit dem Hauptverteidigungsabschnitt der Amerikaner an Wunschdenken realitätsfremder Schreibtischstrategen.
General de Gaulle pflegte, woran jetzt «Le Monde» wieder erinnerte, in Zeiten der Hochspannung im Kalten Krieg darauf zu verweisen, dass die gegen Paris gerichtete sowjetische Bedrohung nur zwei Tagesetappen einer Tour de France entfernt seien. Im Nachhinein scheint es nun, dass die Tschechen selber und dann vor allem die Sowjets in den Jahren nach 1964 von Zweifeln befallen wurden, ob der geplante Kräfteansatz für diese Nebenoperation ausreiche. Im gleichen Zeitraum sanken allerdings die Präsenz und Kampfstärke der Amerikaner in Europa wegen des Kräfteverschleisses im Indochina- Krieg auf einen Tiefstand. Dies hätte die Möglichkeit eines wie in allen übrigen Sowjetplanungen als Alibi auch im Projekt von 1964 erwähnten westlichen Angriffs, den der Warschaupakt stets zur Begründung seiner nominell als «Gegenschlag» angelegten Offensivprojekte an die Propagandawand malte, vollends ins Reich der Fabel verwiesen.
Von entscheidender Wichtigkeit bei der Beurteilung des Operationsplans von 1964 ist nun indes das schon vor dem Prager Frühling 1968 erkennbare Dringen Moskaus auf eine Stationierung sowjetischer Divisionen in Böhmen und Mähren. Mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee am 21. August 1968 in Prag und der anschliessenden ständigen Stationierung einer Armeegruppe im Böhmerwald bis 1990 gelang es dem Kreml, das zuvor in diesem Raum diagnostizierte Kräftedefizit im Aufmarsch gegen Westeuropa zu seinen Gunsten zu korrigieren. Erst im Anschluss daran wuchs auch das amerikanische Potenzial in Süddeutschland wieder an.
Den Aktenfunden aus ostdeutschen Beständen war zu entnehmen, dass zumindest nach 1968 ein wie im Operationsplan von 1964 enthaltener Offensivstoss in die Tiefe im süddeutschen Raum kaum mehr geplant war. Umgekehrt ist der jetzt veröffentlichte polnische Operationsplan von 1951 hauptsächlich zur Verteidigung der eigenen Küste gegen gegnerische Landungen ein Dokument von zweifelhaftem Wert, solange nicht in Rechnung gestellt wird, welche Rolle den polnischen Streitkräften in den späteren Jahrzehnten durch den Warschaupakt zugewiesen worden war. Bis zum Solidarnosc-Aufbruch von 1980 wären sie für einen Angriff bis nach Jütland und auch zur Landung auf der dänischen Hauptinsel Seeland eingesetzt worden. Der Rückgriff allein auf rein defensive Planungen von 1951 in der jetzigen Dokumentation droht zu einer Verzerrung der historischen Wahrheit zu führen. Ähnliches gilt für einige Kommentare in der Einleitung des Projektleiters Vojtech Mastny, der - vielleicht im Bemühen um Ausgewogenheit dieser parallelen Geschichtsschreibung - bei der Erörterung der Nukleareinsatzdoktrin von Ost und West sich streckenweise von einem Äquidistanz-Denken leiten lässt, das die Skrupellosigkeit der Einplanung nuklearer Angriffsschläge durch die Truppen des Warschaupakts, übrigens bis zum Frühjahr 1989, nicht immer in angemessener Weise einstuft und zudem etwas voreilige Schlüsse bezüglich der Wünschbarkeit einer radikalen Atomabrüstung für die Gegenwart zieht.
* Die Dokumente sind auf www.isn.ethz.ch/php abrufbar.