Findbuch "Verwaltung Aufklärung": Vorwort
von Heinz Marzluff
„Eine Handvoll Gebäude, hingesetzt auf ein weitläufiges Terrain an der Oberspreestrasse im Osten Berlins. Die Fensterreihen von sauberer Langeweile. Sichtblenden und immergrünes Gehölz schirmen immer noch ab, was jahrelang eines der bestgehüteten Geheimnisse der DDR war. Mehrere Hundert Männer und einige Dutzend Frauen saßen dort an elektronischem Gerät, werteten Funksprüche und kopierte Dokumente aus, lasen Zeitungen aus aller Welt, schrieben Berichte und druckten Analysen. Ihr Auftrag lautete, alle Potenzen der NATO, ihre Strukturen, Führungskonzeptionen und militärischen Pläne auszuforschen“.
Zur Verwaltung Aufklärung der Nationalen Volksarmee, so hieß der Apparat die längste Zeit, gehörte eine rein mit geheimdienstlichen Mitteln arbeitende Truppe, die heranzuschaffen hat-te, was für Militärattachés und Peilfunker unerreichbar blieb. Das gesamte Unternehmen hatte den Auftrag und den Ehrgeiz, als Frühwarnsystem vor möglichen Angriffen auf die DDR zu funktionieren. Dutzende Spione, die im DDR-Sprachgebrauch Kundschafter hießen, als ob der uralte Begriff an sich etwas unehrenhaftes gehabt hätte, fühlten der NATO auf den Puls und ließen die Zentrale wissen, wie es um den gefürchteten Gegner stand.“
Mit diesen beiden Absätzen führt Andreas Kabus in sein Buch Auftrag Windrose ein, das zum ersten Mal den militärischen Nachrichtendienst der DDR nachzeichnet. [1]
Am 1. September 1952 wurde auf Befehl des Innenministers der DDR und auf Empfehlung der sowjetischen Streitkräfteführung eine Dienststelle der Kasernierten Volkspolizei der DDR zur Ausspähung des militärischen Gegners gegründet. Die Bezeichnung der Dienststelle im offiziellen Schriftverkehr des Innenministeriums lautete „Allgemeine Verwaltung“ (Anlage 1). Generalmajor Karl Linke wurde mit ihrer Leitung beauftragt. Vorbild dieses Dienstes zur Ausspähung des militärischen Gegners war der sowjetische militärische Geheimdienst GRU. Ab dem 1. März 1956, dem Zeitpunkt der Übernahme in die neu gegründete NVA, hieß der Dienst „Verwaltung 19“, danach, bis 1966, „12. Verwaltung“.
Schon in der ersten Hälfte der 1960er Jahre verwandte man diese Tarnbezeichnung seltener. Mit Beginn des Ausbildungsjahres 1966/67 trat der Name „Verwaltung Aufklärung“ an die Stelle der bisherigen Bezeichnung. Bereits im Jahr 1965 gliederte man die Truppenaufklärung ein. Im Jahr 1974 kam der militärische Auslandsdienst (Militärattachédienst) hinzu, der bis dahin der Verwaltung internationale Verbindungen der NVA zugeordnet war.
1983 wurde die bisherige Verwaltung zu einem zunächst aus zwei Verwaltungen und mehre-ren selbständigen Abteilungen bestehenden „Bereich Aufklärung“ aufgestockt. 1987 erfolgte die Verstärkung um die „Verwaltung Truppenaufklärung“ mit Funk und funktechnischer Aufklärung. Das Funkaufklärungsregiment 2, das aus ca. 1’000 Offizieren/Unteroffizieren bestand, wurde der Verwaltung Aufklärung unterstellt.
Zur Zentrale gehörten 1’158 Soldaten und Zivilangestellte, darunter 7 Generale und 686 Offi-ziere, von denen 180 als reine Agentenführer operativen Dienst versahen. 1988 erfolgte mit der Zusammenfassung von bis dahin eigenständigen Organisationseinheiten zu einer 4. Ver-waltung für operative und rückwärtige Sicherstellung eine nochmalige Erweiterung. Damit war eine Organisation geschaffen, die mit allen Mitteln und Möglichkeiten der militärischen Aufklärung, in einer Hand vereint, ausgestattet war.
Bis Ende 1989 war die militärische Aufklärung der NVA wie folgt organisiert: Sie bestand aus der Zentrale und der Truppenaufklärung (Organigramm als Anlage 2). In der Zentrale unterschied man Verwaltungen, Abteilungen, selbständige Unterabteilungen, Arbeitsgruppen und Auswertungsstellen für die operativen Außenstellen. Insgesamt waren es 6 „Säulen“.
1. Die erste Verwaltung war für die strategische Agenturaufklärung zuständig. Sie arbeitete auf geheimdienstlicher Grundlage und bestand aus den Bereichen „illegale Aufklärung“, der Aufklärung mit geheimen, konspirativ geführten Mitarbeitern im Operationsgebiet westliches Ausland und der „Aufklärung aus offiziellen Positionen“.
2. Die zweite Verwaltung steuerte den diplomatischen Aufklärungsdienst, insbesondere auch die Militärattachés. Der Militärattachédienst gilt auch als Teil der strategischen Agenturauf-klärung. Er nahm eine Zwitterstellung zwischen agenturischer Tätigkeit und offizieller Infor-mationssammlung ein. Die Beauftragung auch mit agenturischen Aufgaben wurde daran deut-lich, dass die Militärattachés von der Leitung des MfNV die gleichen Aufträge erhielten wie die illegale Aufklärung.
3. Die dritte Verwaltung war für die operativ-taktische Aufklärung, die Truppenaufklärung, zuständig.
Sie umfasste folgende Bereiche:
· Beobachtung, Fern-, Artillerie-, Pionier-, Chemische Aufklärung
· Luftaufklärung
· Seeaufklärung
· Grenzaufklärung
· Funkelektronische und Funkmessaufklärung
Die Aufklärungskräfte der Truppenaufklärung unterstanden den Chefs der Teilstreitkräfte und der Grenztruppen und waren der Zentrale nur fachlich unterstellt.
4. Die vierte Verwaltung, zuständig für die operative Sicherstellung, war für die Versorgung mit technischem Gerät und für das Sicherstellen aller Nachrichtenverbindungen verantwort-lich.
5. Im Informationsdienst wurden die militärpolitisch und militärisch relevanten Nachrichten gesammelt und ausgewertet sowie Lageberichte und Studien verfasst.
6. Das Militärwissenschaftliche Institut (MWI) war die Ausbildungsstätte der illegalen militärischen Aufklärung. MWI war die Tarnbezeichnung.
Diese „Säulen“ waren selbständig, streng voneinander getrennt und abgegrenzt und wurden von einem General geführt.
Der militärische Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee war ein Instrument der militä-rischen Führung zur Beschaffung, Bearbeitung, Analyse und Bewertung von Informationen zur militärpolitischen und militärischen Lage auf hoher militärischer und politischer Ebene des Gegners, um durch rasche Auswertung der Nachrichten zu einer aktuellen Lagebeurtei-lung und Feindbeurteilung zu kommen.
Dieser Nachrichtendienst unterstand dem Stellvertreter des Ministers und Chef des Hauptsta-bes des Ministeriums für Nationale Verteidigung (MfNV). Die Spitze der Truppenaufklärung war im MfNV unter der Bezeichnung Verwaltung Aufklärung personell und organisatorisch vom militärischen Nachrichtendienst der NVA bis 1964 getrennt. Bis dahin gab es einen Chef Aufklärung im Hauptstab des MfNV und einen Chef der 12. Verwaltung. Die 12. Verwaltung und die Verwaltung Aufklärung wurden am 1. September 1964 zusammengefasst. Der Chef der Verwaltung Aufklärung war von nun an in Personalunion Chef Aufklärung des MfNV.
Für die Staatsführung der DDR und für die militärische Führung des Landes hatte der militä-rische Nachrichtendienst strategische Bedeutung. Ziele und Aufträge der Verwaltung Aufklä-rung wurden vom Ministerium für Nationale Verteidigung festgelegt. Die Hauptanstrengun-gen der Verwaltung Aufklärung galten im wesentlichen der Aufklärung der NATO-Streitkräfte in den Kommandobereichen Europa Mitte und Ostseezugänge. Sie waren insbe-sondere auf die strategischen Richtungen Berlin, Osnabrück und Brüssel sowie Leipzig, Frankfurt/Main und Nancy zu konzentrieren. Für die Aufklärungstiefe wurde eine Begren-zung von 400 bis 600 Kilometer, die Operationszone der Volksmarine einbezogen, festgelegt. Als ständige Räume besonderer Aufmerksamkeit waren ein Streifen zwischen der Staatsgren-ze der DDR und CSSR zur BRD und die Linie Hamburg- Soltau- Hannover- Paderborn- Mar-burg- Nürnberg, dazu das Territorium von West-Berlin, definiert.
Aus der konspirativen Arbeit der Armeeaufkärung ergab sich ein enges Zusammenwirken mit dem Ministerium für Staatssicherheit, welches das Monopol für alle Fragen der inneren Si-cherheit besaß. Ohne dessen Unterstützung und Wohlwollen wäre keine nachrichtendienstli-che Arbeit der NVA möglich gewesen. Die Überwachung durch die Abwehr des MfS wurde in der NVA durch die sogenannte Verwaltung 2000 zentral wahrgenommen. Sie bearbeitete die Aufklärung der Streitkräfte genauso wie andere Einrichtungen in Armee und Gesellschaft. Die Zusammenarbeit mit der in der militärischen Aufklärung etablierten Abteilung der Ver-waltung 2000, bis zu 40 Offizieren stark, war kompliziert. Von ihr gingen Bevormundungen und Einflussnahme auf Vorgänge aus.
Dies führte nicht nur dazu, dass die Staatssicherheit auch innerhalb des militärischen Nach-richtendienstes Informelle Mitarbeiter plazierte, die tiefen Einblick in die fachliche Arbeit der Armeeaufklärung hatten; sie nutzte ihr Abwehrmonopol planmäßig, um sich die Ergebnisse der Aufklärungsarbeit anzueignen.
Nachstehend die Chefs des militärischen Nachrichtendienstes der DDR, die ihn bis 1990 ge-führt haben:
Generalmajor Karl Linke 1952-1957
Oberst Willy Sägebrecht 1957-1959
Generalmajor Arthur Franke 1959-1974
Generalleutnant Theo Gregori 1974-1982
Generalleutnant Arthur Krause 1982-1990
Im Januar 1990 wurde aus der Verwaltung Aufklärung der NVA das Informationszentrum des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung gebildet. Dies war nicht nur ein Namenswech-sel, sondern eine grundlegende Änderung des Inhalts seiner Tätigkeit. Von der gedeckten, teils mit geheimdienstlichen Mitteln arbeitenden militärischen Aufklärung erfolgte der Wech-sel zum offenen, auf alle Staaten, einschließlich osteuropäischer und Warschauer Vertrags-staaten, orientierten Analysezentrum.
Der Verteidigungsminister der DDR, Admiral Theodor Hoffmann, befahl am 16. März 1990 dem Chef des Informationszentrums die Beendigung der illegale Arbeit der militärischen Aufklärung bis Ende März 1990. Darüber hinaus befahl er, bis zum 31. Juli 1990 alle perso-nellen, materiellen und finanziellen Nachweise, Karteien, Akten oder sonstige Unterlagen zu vernichten, die zur Aufdeckung von Personendaten führen könnten. Aufgrund dieses Befehls wurden alle sogenannten „personengebundenen“ oder „personenbezogenen“ Akten in den Händen der Führungsoffiziere oder in irgendwelchen Zwischenlagern oder Schränken des Ministeriums vernichtet, um im Sinne des Personenschutzes unerwünschte Rückschlüsse zu verhindern. Ebenso wurden alle Akten beseitigt, die Rückschlüsse auf konspirative Personen zugelassen hätten. Bereits archivierte Akten wurden aus dem Militärarchiv Potsdam zurück-gerufen. Nach dieser Säuberung fehlten von 250 Archivschachteln rund 80.
Auf Weisung des Chefs des Informationszentrums wurde im Zuge der Militärreform die ille-gale militärische Aufklärung ab 31. März 1990 eingestellt und als selbständiger Bereich bis zum 31. August 1990 vollständig aufgelöst. Dies schloss auch die sicherstellenden Elemente und das Militärwissenschaftliche Institut ein.
Sei März 1990 erfolgte die Informationsbeschaffung, -bearbeitung, -analyse und -bewertung auf völlig neuer Grundlage. Früher wurde die Einschätzung der militärpolitischen und militä-rischen Lage auf der Grundlage der vom illegalen Apparat eingebrachten Ergebnisse vorge-nommen. Nun erfolgt dies ausschließlich auf der Basis offizieller Informationen und eigener Analysetätigkeit des Informationsdienstes, der der Hauptträger der Veränderungen war. Alle anderen verbleibenden Strukturelemente arbeiteten ihm zu.
Auch der Inhalt der Tätigkeit des Informationszentrums wurde prinzipiell verändert. Er um-fasst die militärpolitische und militärische Lageeinschätzung „außerhalb der DDR“. Alle NATO-, neutralen und osteuropäischen Staaten (einschließlich der Warschauer Vertragsstaa-ten) wurden ebenso einbezogen wie die Lageentwicklung in den aussereuropäischen Regio-nen. Hinzu kam die Ausrichtung der Arbeit des Informationszentrums auf die reale Darstel-lung und Wertung der Vertrauensbildung, Verifikation und Abrüstung.
Trotz der Vernichtung von Akten im Jahr 1990 umfasst der Bestand „Verwaltung Aufklä-rung“ rund 2’800 Bände, die mit diesem Findbuch, das wo möglich nach dem Ordnungsmo-dell des Militärarchivs der DDR klassifiziert wurde, erschlossen sind. Der weitaus größte Teil, ca. 2’500 Bände, enthält Aufklärungsergebnisse. Diese wurden, neben umfangreichen Son-derberichten, auch in Tages-, Wochen-, und Monatsberichten zusammengefasst. Wegen ihres z.T. großen Umfangs und des vielseitigen Inhalts konnten die Tages-, Wochen- und Monats-berichte nur „einfach“ erschlossen werden.
Dem Benutzer wird über die Laufzeiten und die Inhaltsverzeichnisse in dieser Sammelbände die Auswertung dennoch gut möglich sein. Dokumente zur Funk und funktechnischen Auf-klärung der NVA sind in geringem Umfang vorhanden. Auch bei den Unterlagen/ Karten zu Übungen der NATO bzw. der Bundeswehr finden sich Informationen zu diesem Bereich.
Etwa 300 Akten zu Militärischen Bestimmungen, zur Führung, zur Finanzwirtschaft, zur Or-ganisation des Dienstes in der Truppe ermöglichen einen Einblick in des Innenleben dieses Nachrichtendienstes. Die tiefe Gliederung der Klassifikation ließ den vorläufigen Verzicht auf ein Register zu.
Fussnoten
[1] Andreas Kabus: Auftrag Windrose: Der militärische Geheimdienst der DDR (Berlin: Verlag Neues Leben, 1993).